Neues Mittel gegen Alkoholkrankheit?
Neues Mittel gegen Alkoholabhängigkeit
14. Dezember 2012, 16:20
Vor allem zur Reduzierung des weiteren Konsums - Behandelbare chronische Erkrankung - Rückfälle gehören dazu
Wien/London - Wahrscheinlich könnten viele Menschen von einem neuen Arzneimittel profitieren, das deren täglichen und monatlichen Alkoholkonsum deutlich reduziert. Am Freitag gab die Europäische Arzneimittelagentur (EMA/London) bekannt, dass ihr Expertengremium (CHMP) die Zulassung von Nalmefen ("Selincro") für die Behandlung von chronischen Alkoholikern empfohlen hat. In Studien an Patienten reduzierte das Medikament bei einmal täglicher Einnahme die Tage mit hohem Alkoholkonsum um zwei Drittel, ebenso den monatlichen Alkoholkonsum in Summe.
"Selincro ist für die Reduktion des Alkoholkonsums bei Erwachsenen mit Abhängigkeit und einem hohen Risiko (mehr als 60 Gramm reiner Alkohol pro Tag bei Männern und mehr als 40 Gramm Alkohol bei Frauen) angezeigt, wenn sie keine körperlichen Entzugserscheinungen haben und keine unmittelbare Entgiftung benötigen", schrieb die Europäische Arzneimittelagentur am Freitag.
Immer mehr Jugendliche
Der Hintergrund: 340.000 Österreicher sind alkoholabhängig, weitere 760.000 oder elf Prozent der Bevölkerung haben einen problematischen Alkoholkonsum. Die Lebenserwartung der Betroffenen ist um 15 bis 20 Jahre geringer als im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Die Tendenz ist steigend. Während lange Jahre das Geschlechterverhältnis bei den Alkoholsüchtigen in Österreich bei vier zu eins (Männer/Frauen) lag, ist es jetzt schon bei 3,5 bis drei zu eins.
Michael Musalek, Psychiater und Ärztlicher Leiter des Anton Proksch-Instituts, erklärte dazu bei den Alpbacher Gesundheitsgesprächen im August dieses Jahres: "Wir werden in 30 Jahren ein Verhältnis von zwei zu eins (Männer/Frauen) haben. Immer mehr Jugendliche haben einen Problemkonsum."
Reduktion statt Abstinenz
Neue Therapiemöglichkeiten sind aus mehrfacher Hinsicht wichtig, weil die Medizin immer früher in die oft Jahrzehnte dauernde Entwicklung der Alkoholkrankheit eingreifen will. Musalek: "Wir dürfen nicht zuwarten. (...) Das Neueste ist, das sich die Kriterien für die Diagnose der Alkoholkrankheit verändern. In Zukunft wird man nur noch ein 'Frühstadium' (bisher "problematischer Alkoholkonsum", Anm.Red.) und ein 'Spätstadium' unterscheiden." Gleichzeitig wird bei Personen mit Risikokonsum und einigermaßen beherrschbarem Zustand vermehrt versucht, über langfristige Reduktion statt sofortiger völliger Abstinenz eine Besserung und Stabilisierung herbeizuführen.
Gerade dafür sind neue Medikamente sinnvoll. Hier hat der dänische Pharmakonzern Lundbeck vor einiger Zeit die Substanz Nalmefen einlizensiert. Die Nalmefen ist bereits seit den frühen 1970er-Jahren bekannt und wurde als Gegenspieler zum Opioid-Rezeptor entwickelt. Im März dieses Jahres wurden beim Europäischen Kongress für Psychiatrie in Prag die Ergebnisse von drei klinischen Wirksamkeitsstudien mit fast 2.000 Patienten präsentiert.
Demnach reduzierte die einmal tägliche Einnahme von 18 Milligramm der Substanz die Zahl der Tage, an denen die Probanden in einem Monat hohen Alkoholkonsum hatten (mehr als 60 Gramm bei Männern, mehr als 40 Gramm bei Frauen - z.B. 1,5 oder ein Liter Bier, drei Viertel oder ein halber Liter Wein), auf etwa ein Drittel im Vergleich zu der Placebo-Gruppe. Das galt auch für den Alkoholkonsum insgesamt über ein Monat hinweg, wobei die Beobachtungszeit ein halbes Jahr betrug. Es gibt Hinweise, wonach sich die Wirkung bei längerer Anwendung noch erhöht. Nalmefen soll vor allem das Alkoholverlangen (Craving) von Betroffenen reduzieren.
Krankheit des Gehirns
Modernste molekularbiologische Methoden haben der Alkoholkrankheit und ihren Vorstufen den Nimbus von Willensschwäche und Verhaltensstörung genommen. Gorwood: "Abhängigkeit ist eine Krankheit des Gehirns. Rückfälle gehören dazu." Das ermöglicht einerseits die Konzentration auf die Erforschung der eigentlichen Krankheitsprozesse, andererseits führte es weg vom ehemaligen Konzept, dass bei Alkoholabhängigen und schwer Gefährdeten auf jeden Fall sofortige und absolute Abstinenz das Ziel sein müsse.
Der Experte: "Wenn ich einem Alkoholiker nach vielen Jahren sage, dass er gestern den letzten Schluck für sein weiteres Leben getan hat, kann er sich das überhaupt nicht vorstellen. Wir wollen deshalb zunehmend den gefährlichen Konsum reduzieren helfen." Medikamentös ein erster Schritt war vor einigen Jahren das ehemals zur Muskelentspannung entwickelte uralte Mittel Baclofen. Ein alkoholkranker französischer Kardiologe unternahm Selbstversuche mit hohen Dosen. Seither wird das Arzneimittel immer öfter zur Beherrschung der Gier nach Alkohol eingesetzt. Gorwood: "Ich habe einen Patienten, der kam damit von einer Flasche Whiskey pro Tag fast zur Abstinenz. Er trinkt nur noch ganz wenig."
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